Feminicídio
Gewalt und Mord an Frauen in Lateinamerika
Alle zwei Stunden wird in Brasilien eine Frau von ihrem Ehemann, Freund oder verlassenen Liebhaber ermordet. 45.000 Frauen und Mädchen allein – erschossen, erstochen, totgeschlagen – zwischen 2000 und 2010; die Population einer mittleren Stadt im Blutrausch ausradiert. Jedoch in der brutalen, Schrecken erregenden Statistik wird Brasilien übertrumpft von El Salvador, Jamaica, Guatemala, Südafrika, Russland und Ländern des Kaukasus. Der Machismo wütet weltweit, brasilianische Frauenrechtlerinnen und Psychologinnen erklären warum und wie er bekämpft werden kann.
Ein Beitrag von Frederico Füllgraf aus Brasilien
Redaktion: Annette Morczinek
Musikzusammenstellung: Jörg Heyd
„Nur ein paar Piekser“– so heisst ein schockierendes Bild der
mexikanischen Kunstmalerin Frida Kahlo aus dem Jahr 1935 , das eine Blut
überströmte, mit Messerstichen ermordete Frau, nackt auf einem Bett liegend
zeigt. Daneben stehend, ein Mann mit der Mordwaffe in der Hand und leerem
Gesichtsausdruck.
Anlass für das Motiv war Kahlos
tiefe Trauer über die Affären ihres Ehemannes, Diego Rivera - diesmal mit ihrer
Schwester, Cristina. Ihren Schmerz überspielte sie mit einer Zeitungsmeldung:
Ein eifersüchtiger Mexikaner hatte seine Frau erstochen und sich vor Gericht
damit heraus geredet, er habe seinem Opfer doch „nur ein paar Piekser“
zugemutet. Mit ihrem Bild veranschaulichte die weltweit beachtete Künstlerin
ihre Verabscheuung der Salonfähigen „Verteidigung der männlichen Ehre“, womit
der Machismo aus den Bindungen zwischen Frau und Mann ein
Schlachthaus gemacht hatte.
Achtzig Jahre später wütet der
Geschlechtermord gnadenlos in Zentralamerika, Südafrika, Russland und Ländern
des Kaukasus, aber auch Spanien – mit 192.000 Anzeigen von Frauenmisshandlungen
aus dem Jahr 2010 – oder im unverdächtigen Kanada, in dem zweihundert zu
„Prostituierten“ abgestempelte Indianerinnen ermordet wurden.
Die Todesstatistik ist Schwindel
erregend: Im knapp 13 Millionen Einwohner zählenden Guatemala, wurden in
den vergangenen fünf Jahren dreitausendfünfhundert Frauen umgebracht. Im
Jahrzehnt zwischen 2000 und 2010, ließen in Brasilien fünfundvierzigtausend Frauen
und Mädchen ihr Leben: Vom Ehemann, Freund oder verlassenem Liebhaber
erschossen, erstochen, totgeschlagen - die Population einer mittleren Stadt im
Blutrausch ausradiert. Ein seltsames Minderwertigkeitsgefühl treibe die
Männer zur Gewaltanwendung, meint die Kunstpädagogin im südbrasilianischen
Curitiba, Lorita Rivera:
O Ton 01: [Der Mann fühlt sich minderwertig... Das ist ja ein
bekanntes, historisches Phänomen: Der Mann ist der Versorger des Hauses, er ist
derjenige der das Geld verdient - Also, ist der Mann derjenige, der die Macht
verkörpert. Was aber passiert nun? Eine neue Machtverteilung findet statt im
Hause, in dem er glaubt, den Kürzeren zu ziehen – und dabei greift er zur
Gewalt! Ich halte das für eine Art Kompensierungsverhalten, denn nun
disqualifiziert, erniedrigt er die Ehefrau, damit sie in irgendeiner Weise sich
ihm gegenüber ´kleiner´ fühlt...]
Wie aber passt das zusammen mit der
fortschreitenden Eroberung von einflussreichen Positionen in Wirtschaft und
Politik durch Frauen in Lateinamerika? 45
Prozent der Stellen in Brasilien sind mit Frauen besetzt, in Argentinien
werden 38 Prozent des Parlamentssitze von Frauen bekleidet; im Senat, weit über
dem Weltdurchschnitt, sind es sogar 43 Prozent. Für die Schauspielerin und
Produzentin in Curitiba, Eloah Petreca, werden die Frauen jedoch nach wie vor
diskriminiert:
O-Ton 2: [Die Frau besetzt Rollen die in
Wirklichkeit ihr immer schon zustanden, nur dass diese von Männern besetzt
waren – so war das früher. Aber nun schauen wir uns die Gegenwart an: Die Frau
kann sogar mehr verdienen als der Ehemann, denn jetzt darf sie sozial
aufsteigen. Wir wissen daber doch, dass das Ausnahmen sind, denn nur wenige
Betriebe zahlen den Frauen den gleichen Lohn wie den Männern, für die gleiche
Arbeit. Das ist auch eine Form von Gewaltausübung, eine Art Gesinnungsgewalt –
Wie auch immer: Obwohl viele Frauen im Beruf qualifizierter sind als ihre
männlichen Kollegen, verdienen sie weniger...]
Femicídio oder Feminicídio wird die blutrünstige
Ausprägung der Mysogenie genannt. Der Begriff - Femicide - wurde
zum ersten Mal 1976 von der Frauenrechtlerin Diana Russel vor dem
Internationalen Gerichtshof zur Bekämpfung von Verbrechen gegen Frauen
verwendet.
Die mexikanische Ethnologin und
Schriftstellerin, Marcela Lagarde, meint jedoch, der Femicídio erkläre
leider nur den männlichen Tötungsakt im längst überschrittenen, innerfamiliären
Bereich. Dem aber hafte eine zutiefst politische Dimension an: Regierungen und
Justiz bagatellisierten und ermutigten damit die massenhafte Hinschlachtung von
Frauen, die dem Genozid vergleichbar sei und deshalb juristisch als Feminizid deklariert
werden müsse. Hintergrund bilden Lagardes private Recherchen der entsetzlichen
Schändung, Hinrichtung und Verstümmelung von achthundert jungen Frauen, die in
Abwässerkanälen, Müllkippen und der Sandwüste ausserhalb von Ciudad
Juárez (= Huárez), an der Grenze zu den USA, gefunden-, deren Täter
jedoch niemals angeklagt wurden. Feminizid sei also die bewusste Verschleppung der
Untersuchungen, die Straflosigkeit der
Täter und die daraus resultierende Mitverantwortung des Staates – In einem
Wort: Ein Kapital- und ein „Verbrechen gegen den Staat“.
Der schweigsame Vormarsch der
Frauen hat den Anschein als seien in Lateinamerika die Tage des Machismo gezählt. Erwerbstätigkeit, finanzielle Unabhängigkeit, die
leiseste Andeutung emanzipatorischen
Verhaltens einer Frau, haben die patriarchalischen Geschlechterrollen in
die Krise gestürzt. Nach 11 Jahren Schulunterricht können 61 Prozent der
erwerbstätigen Brasilianerinnen-, doch nur 53 Prozent der Männer die Mittlere
Reife nachweisen. 21 Prozent der Unternehmensvorstände werden von Frauen mit
Hochschulabschluss besetzt, von Männern ------ nur zu 14
Prozent.
Die neue
Machtverteilung bekommt den Machos nicht,
sie fordert ihre Gewaltbereitschaft heraus. Gemordet wird deshalb
quer durch die Gesellschaftsschichten: Jede 31. Stunde, ein Frauenmord in
Argentinien; in Brasilien, jede zweite Stunde.
Wer schützt
nun die Frauen? Lorita Rivera schätzt die Schutzfunktion des Staates sehr
skeptisch ein:
O-Ton 3: [Den Idealzustand haben wir heute nicht, das ist klar, aber wir
haben schon Fortschritte gemacht, es gibt schon ein wenig “Schutz” in
Anführungszeichen... – Ich würde nicht sagen, Schutz durch den Staat, aber von
Seiten der Gesellschaft. Es bestehen Kommunikationskanäle: Also wenn sich eine
Frau beleidigt oder tätlich angegriffen fühlt, dann macht sie den Mund auf! Und
die Gesellschaft ist da, um sie schützen, nicht aber der Staat – der ist leider
noch nicht so weit].