Am heutigen 1. Januar tritt Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff eine neue Amtszeit an, nachdem Sie sich in der Stichwahl gegen den Konservativen Aécio Neves durchgesetzt hatte. Amerika21-Redakteur Harald Neuber sprach über die Wahlen, das deutsche Brasilien-Bild und die Medien mit Frederico Füllgraf, Korrespondent der brasilianischen Zeitschrift Jornal GGN. Dort erscheint das folgende Gespräch parallel auf Portugiesisch.
Frederico Füllgraf: Ein provokativer Einstieg: Deutsche lieben Caipirinha, brasilianische Strände und brasilianische Frauen. Sie verstehen es, mit ihren Unternehmen in Brasilien viel Geld zu verdienen. Für das gleiche Land aber hat die Mehrheit der deutschen Medien nur Spott und Hass übrig. Ist das nicht eine schizophrene Spaltung im Brasilien-Bild der Deutschen?
Harald Neuber: Das ist in der Tat provokant zugespitzt. Ich glaube, dass wir nicht von dem einem Brasilien-Bild der Deutschen per se sprechen können. Es gibt in der öffentlichen Meinung mehrere Bilder und Diskurse von und über Brasilien. Zum einen haben wir das klassische Brasilien-Bild, das stark von Tourismus und kulturellen Erfahrungen geprägt ist: die Strände und der Bossa Nova als frühe Form einer globalisierten Musik mit autochthonen Wurzeln. Auf der anderen Seite gibt es den Blick auf das aufstrebende, moderne Brasilien als Teil der BRICS-Staatengruppe. Ein Land, das eigene Entwicklungsinteressen vertritt, die in zunehmenden Widerspruch mit den Interessen der G7 stehen. Dieses moderne Brasilien wird tatsächlich kritisch kommentiert.
Dieses Phänomen der überlappenden Diskurse, der unterschiedlichen Medienrealitäten sehen wir übrigens auch im Fall von Kuba. Man kann das als schizophren betrachten: Auf der einen Seite reisen jährlich tausende Menschen nach Kuba und auch Brasilien und erleben funktionierende Staaten. Auf der anderen Seite kehren die dann zurück und lesen, dass diese Länder kurz vor dem Kollaps stehen. Sie haben die Realität erfahren und werden zu Hause mit einer konstruierten Medienrealität konfrontiert. Gegenfrage: Was kann ein Land wie Brasilien tun, um Mediendiskurse zu beeinflussen und ist der Regierung in Brasilien das Problem überhaupt bewusst?
Frederico Füllgraf: Das Problem ist der Regierung nicht nur chronisch bewusst, sie ist gerade mal wieder Opfer eines medialen Attentats geworden. Am vergangenen 25. Oktober, ein Tag vor der Stichwahl zwischen Dilma Rousseff und Aécio Neves, ging die Wochenzeitschrift "Veja" mit einer Collage an die Öffentlichkeit. Zu sehen waren finstere Fotos von Rousseff und Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva neben dem Titel "Sie wussten alles" – sollte meinen, sie wussten und vertuschten den Korruptionsskandal in der halbstaatlichen Erdölgesellschaft Petrobras.
"Veja" berief sich dabei auf eine angebliche Aussage des in Haft befindlichen Devisenschmugglers und Kronzeugen Alberto Yousseff, der 2004 mit einem zwölf Milliarden US-Dollar-Coup den Zusammenbruch der staatlichen Landesbank Banestado in Paraná herbeiführte. Die Aussage aber wurde wenige Tage später wieder von seinem Anwalt dementiert. Es gibt keinen einzigen Hinweis, geschweige denn Beweise, dass Lula und noch weniger Dilma Rousseff die Korruption in der Petrobras gefördert oder gedeckt hätten. Das räumte die Zeitschrift auch selbst in ihrem Text ein, griff aber eine – ich wiederhole: vom Anwalt des Kronzeugen dementierte – Anschuldigung aus der Luft und erhob sie zur Titelgeschichte.
Die Vorverlegung des Erscheinungsdatums von "Veja" um zwei Tage (die Zeitschrift erscheint seit 40 Jahren nur an Montagen) verfolgte das eindeutige Ziel, die Wahl zugunsten Aécio Neves’ zu beeinflussen und stellt nach einhelliger Meinung eine Attacke nicht nur gegen Rousseff und die Arbeiterpartei (PT) dar, sondern auch gegen die Verfassung und den Rechtsstaat. Dilma Rousseff verlangte innerhalb von 24 Stunden eine gerichtlich erwirkte Gegendarstellung in der Zeitschrift selbst und verklagte die Verlagsgruppe "Abril", Herausgeberin von "Veja", wegen übler Verleumdung. Sieben weitere Ermittlungsverfahren gegen "Veja" wurden von Lula, der PT und der Regierung eingeleitet. Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft laufen auf Hochtouren.
Der "Veja"- und nicht der Petrobras-Skandal kann wohl als die kriminellste aller Handlungen der brasilianischen Medien gegen den Rechtsstaat in den vergangenen vier Jahrzehnten bewertet werden, und hat für die Handlanger des Umsturzversuchs gravierende Folgen.
Die erste Konsequenz ist der Aufschrei der Öffentlichkeit mit der Forderung nach der "Lei de Mídias", also einer – im übrigen in Deutschland seit über 50 Jahren bestehenden – Gesetzregelung zur Bekämpfung der Presse- und Medienkonzentration, folglich der Demokratisierung der Medienlandschaft. Ich habe ausführlich in meinem
Essay "Großgrundbesitzer im Äther" das brasilianische Medienszenario dargestellt.
Die Medienlandschaft im 210 Millionen Einwohner großen und vielfältigen Brasilien wird von sieben, maximal zehn Familienunternehmen monopolisiert, nicht nur in der Menge, sondern vor allem durch Überkreuz-Besitz von Tageszeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen und Internet-Angeboten. Die Einstellung dieser Medien ist zu 90 Prozent regierungsfeindlich und sie betreiben seit der ersten Amtszeit Lulas (2003-2007) eine systematische "Demontage" der – weltweit als erfolgreich anerkannten – PT-Regierungen.
Geradezu grotesk und perfide ist die Tatsache, dass gerade diese zehn Familienkonzerne 70 Prozent der Werbemittel der Regierung – zumeist Anzeigen und Bekanntmachungen von Sozialprogrammen – auf sich vereinen, während 2.990 Einzelmedien sich mit den restlichen 30 Prozent von insgesamt 161 Millionen Reais, also etwa 60 Millionen Euro, begnügen mussten. Das ist aber nur eine Fußnote zum eigentlichen Geschäft mit Werbeaufträgen der Regierung, denn die Werbeausgaben der staatlichen Konzerne belaufen sich auf umgerechnet etwa 700 Millionen Euro pro Jahr. Das heißt, die Medienmonopole, allen voran die Globo-Gruppe, bereichern sich an den Staatsausgaben, schießen aber hinterrücks auf ihre Geldgeber. Die Regierung finanziert ihre schlimmsten Feinde!
Nun aber zurück zur deutschen Berichterstattung über Brasilien. Das Jahrzehnt 2003-2013 war im Durchschnitt von einer sympathischen, brasilienfreundlichen Berichterstattung in den deutschen Medien geprägt. Diese Tendenz aber vollzog eine radikale Wendung hin zu einer zunehmend einseitigen, Dilma und PT-feindlichen Berichterstattung. Wie ist das gegenwärtige Brasilien-Bild in Deutschland?
Harald Neuber: Das ist eine interessante Beobachtung, das war mir so nicht präsent. Wie gesagt, in dem Maße, wie Interessen in den Industriestaaten beeinflusst werden, verändern sich die Diskurse und die Berichterstattung. Das sehen wir ja vor allem im lateinamerikanischen Kontext. Venezuela ist unter dem extrovertierten und angriffslustigen Präsidenten Hugo Chávez geradezu ein Hassobjekt westlicher Medien geworden. Das heißt nicht, dass man an der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes nichts kritisieren darf. Kaum ein westlicher Journalist hat sich aber die Mühe gemacht, hinter die Kulissen zu schauen, Medienrealitäten zu hinterfragen und selbst vor Ort zu recherchieren.
Eine Ausnahme war mein leider zu früh verstorbener Kollege Manfred Bleskin vom Nachrichtensender n-tv, der übrigens hervorragend Portugiesisch sprach und morgens oft portugiesisches Radio hörte. Manfred war vor einigen Jahren nach Bolivien gereist, kam zurück und sagte: "Mein Bild dieses Landes und des Prozesses hat sich völlig verändert." Ein solches Hinterfragen sehe ich heute in den Medien kaum noch. Daher können politische und wirtschaftliche Interessen in der Berichterstattung über Brasilien einen solchen Niederschlag finden.
Frederico Füllgraf: "Der Spiegel" war Anführer einer wütenden und verlogenen Pressekampagne gegen die Fußball-WM in Brasilien ("Tod und Spiele", 12.06.2014), der das totale Fiasko vorausgesagt wurde. Der Ablauf der WM, die unverkennbare Publikumssympathie für Brasilien und seine Menschen lehrte den "Spiegel" und sämtliche übrigen Kritiker eines Besseren: Das WM-Fiasko fand allein für die Medien statt. Was für Interessen gaben nach Ihrer Meinung dem "Spiegel" Antrieb zu derartig miesem Journalismus?
Harald Neuber: Ich kann nicht für ein Medium antworten, für das ich nicht arbeite. Ich denke aber, dass man ein Großevent wie die Fußball-WM durchaus hinterfragen kann. Vor allem die Rolle der FIFA. Man kann und muss schon die Frage stellen, wem eine solche Veranstaltung zugute kommt. Die Frage ist, mit welchem Ziel eine kritische Berichterstattung verfolgt wird. Während der WM hatte ich teilweise den Eindruck, dass westliche Korrespondenten über lange Zeit hinweg geradezu auf der Suche nach Belegen für ein Scheitern waren.
Ein BBC-Korrespondent widmete eine ganze Reportage einer wackeligen Treppe vor dem Maracanã-Stadion. Und noch mal: Ich sage nicht, dass das kein Thema ist. Aber diese Problem-Berichterstattung überwog über lange Strecken hinweg, während die meiner Meinung nach legitime Kritik sozialer Organisationen an der FIFA und dem Fußball-Business kaum eine Rolle spielte. Aber stand die brasilianische Regierung mit der Ausrichtung der FIFA-WM nicht auch zwischen allen Stühlen? Der umstrittene Fußball-Verband geht mit Milliardengewinnen nach Hause. Was bleibt aber für die Armen in Brasilien? Hätte dieses Thema von der PT-Regierung nicht viel offensiver angegangen werden müssen?
Frederico Füllgraf: Die brasilianische Regierung stand mit der Ausrichtung der FIFA-WM gewiss zwischen einigen, nicht aber zwischen "allen" Stühlen. Ich habe von Ihnen auch keine ausschließliche Verurteilung des "Spiegels" erwartet, sondern Inhalte des deutschen Magazins angesprochen, die sehr wohl unter jedem Niveau waren, nämlich in der berechtigten Kritik an der WM gleich eine arrogant herab blickende Generalabrechnung mit angeblichem Wirtschafts-Versagen und "brasilianischer Inkompetenz" servierte.
Aber ich verstehe Ihren Einwand. Zurück zur Fußball-WM: Diese war ja von Lula nach Brasilien geholt worden, ebenso die 2016 in Brasilien auszutragende Sommer-Olympiade. Es gib mehrfachen Konsens darüber, dass diese Initiativen Lulas der politischen Imagepflege Brasiliens sehr zugute gekommen sind, also außenpolitisch gesehen von hochgradigem Wert waren und im Grunde den brasilianischen Anspruch auf einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat ein für allemal untermauern konnten.
Die Entscheidung für Brasilien als Austragungsort für WM und Olympische Spiele war sozusagen die außenpolitische Krönung des Wachstumsbooms von sieben Prozent, der die Erteilung der Ehrenurkunde des Wirtschaftsforums von Davos an Lula und seiner Ernennung zum "Mann des Jahres", von der Times über El País bis Forbes vorausgegangen waren. Dieses Szenario war 2013 unter Dilma Rousseff längst Vergangenheit, die Euphorie war verblasst. Ihr Amtsantritt 2011 fiel zusammen mit der weltweiten Rezession als Folge des Banken-Crashs von 2008. Mit stolzem 300 Milliarden US-Dollar Devisenüberschuss und steigender inländischer Verbrauchernachfrage als Folge der weit über der Inflation von anfänglich fünf Prozent erhöhten Mindestlöhne setzte die Präsidentin auf Vollbeschäftigung, Beibehaltung der Sozialprogramme zur Armutsbekämpfung und Aufbau der landesweiten Infrastruktur, wozu auch der Großteil der WM-Bauten gehörte.
Die innerbrasilianische Argumentation einiger NGOs, die dann von den Medien kolportiert wurde, dass Brasilien mehr für die FIFA-WM als für Sozialprogramme ausgegeben habe, ist Nonsens. Die Kritiker verkennen zum Beispiel dass Brasilien jährlich 5,7 Prozent des BIP allein für die Bedienung des Schuldendienstes ausgibt – mehr als die 5,3 Prozent für das Erziehungswesen. In Zahlen ausgedrückt entspricht ein Prozent des BIP 44,0 Milliarden Reais, also rund 14 Milliarden Euro. Doch 5,7 Prozent sind schwindelerregende 83,6 Milliarden Euro im Jahr zur Zahlung von Zinsen. Doch darüber sprach und spricht kein "seriöses Medium". Dass nun die Profite der WM vor allem von der FIFA und den brasilianischen Baulöwen kassiert wurde, das ist meine eigene Hauptkritik an dem ganzen Spektakel.
Doch das war der Preis, den die Regierung zu zahlen bereit war. Die Proteste vom Juni 2013 erreichten die Straßen als die Inflationsrate bereits sechs Prozent erreichte und die Menschen allgemein mehr Mitspracherecht abverlangten – eine berechtigte Bewegung, die sehr rasch von Rechtsextremisten mit ihrem Ruf nach "Fora PT" (Raus mit der PT) unterwandert wurde, die jetzt nun, nach dem Wahlverlust der Konservativen, frech und aggressiv die Rückkehr der Militärs fordern.
Doch nun wieder zurück zur Arbeitsweise der deutschen Medien.
In den 1970ern, bis hinein in die 1990er Jahre arbeitete in Südamerika (B. Aires, Rio, São Paulo) eine Gruppe seriöser, sehr kritischer deutscher Korrespondenten. Ich nenne aus der Erinnerung u.a den fast legendären Romeo Rey (Frankfurter Rundschau), Carlos Widman (Süddeutsche), Klaus Eckstein (ZDF), Peter Laudan (WDR Radio, B. Aires). Sie schärften den Blick für die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur und scheuten keine Kritik an den Machenschaften deutscher Konzerne in Südamerika. Drei Fragen: Was schreiben die heutigen Korrespondenten der gleichen Medien? Worauf ist heute das Augenmerk dieser Medien gerichtet? Wie geht es zu in den Redaktionen, woher beziehen die Lateinamerika- oder Brasilien-Fachleute ihre Informationen?
Harald Neuber: Wenn ich Vorträge über die Lateinamerika-Berichterstattung deutscher Medien halte, sage ich oft: "Schauen Sie sich einmal die Internetseite der Tagesschau an. Dort können Sie aus dem Archiv die Sendungen von vor 20 Jahren sehen. Damals haben Korrespondenten in den kleinsten mittelamerikanischen Ländern von vor Ort berichtet." Heute wird von Mexiko-Stadt, Buenos Aires oder aus Rio de Janeiro über den ganzen Kontinent berichtet. Ich möchte damit nicht sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen einen schlechten Job machen.
Aber natürlich hat die Rationalisierung die Qualität der Berichterstattung verschlechtert. Statt vor Ort zu recherchieren wird oft die nationale Presse in den entsprechenden Ländern ausgewertet. Das ist aber tückisch. Denn nicht nur in Brasilien wenden sich Medienkonzerne gegen die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. In Venezuela, Bolivien oder Ecuador nehmen die Medienkonzerne mehrheitlich nicht nur eine regierungskritische, sondern eine regierungsfeindliche Haltung ein, weil sie mit anderen Wirtschaftszweigen verknüpft sind und die wirtschaftlichen Interessen dieser Konglomerate betroffen sind. In Venezuela haben Medien 2002 einen Putsch mitgetragen, aus privaten Medien ist eine Partei entstanden.
Wie sieht das in Brasilien aus? Wird die Regierung von Dilma Rousseff im Falle eines Wahlsieges das Thema der Medienkonzerne in Angriff nehmen? Wird es neue Mediengesetze geben wie unter anderem in Venezuela und Argentinien?
Frederico Füllgraf: Dilma Rousseff hat die Wahlen mit 3,3 Prozent, also knapp 3,5 Millionen Stimmen gewonnen. Wie ich oben bereits skizziert habe, ist eine demokratische Medienregulierung nun Programm der zweiten Amtszeit Rousseffs. Franklin Martins – Minister für Kommunikation unter Lula – ist Urheber des ersten Entwurfs einer "Lei de Mídias" und der Forderung nach einem Bundesrat für Journalismus (ähnlich dem Deutschen Presserat für die sogenannte Selbstkontrolle). Doch die Verleumdungskampagne der zehn Familien und des Interamerikanischen Presse-Vereins der Verleger mit Sitz in Miami/USA (SIP) – die die PT der Einführung der "Pressezensur, Meinungsdiktatur und Untergrabung der freien Marktwirtschaft" bezichtigten – war derart heftig, dass der Entwurf zurück gezogen werden musste.
Dilma Rousseff äußerte sich 2011 zunächst gegen die Initiative ihres Vorgängers. Doch jetzt hat sie die Dringlichkeit erkannt und wird sehr bald ihren Regulierungsantrag im Parlament einreichen. Ich vermute, 2015 wird im Licht einer neu entfachten und scharfen Debatte über das anstehende Mediengesetz stehen, wofür übrigens seit 2013 hunderte von Bürgerinitiativen und Regionalmedien, wie das "Projeto de Lei de Iniciativa Popular para a democratização das comunicações no Brasil" mobil machen.
Mich interessiert nun, wie Sie die Berichterstattung über die Regierung Dilma Rousseff in den deutschen Hauptmedien beurteilen. Zu Beginn ihrer Amtszeit wurde sie als "ehrenhafte Ex-Guerillera" beschrieben, die ihr Leben im Kampf gegen die Diktatur riskiert habe, heute wird sie als "Versagerin" in der Wirtschaftspolitik karikiert. Moniert wird, dass Brasilien 2014 ein schwaches Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent erreiche, als ob es die marode EU und die Schrumpfung des deutschen Wachstums (von 1,8 Prozent auf 1,3 Prozent bzw. 0,8 Prozent) nicht gäbe. Ist das noch seriöser Journalismus?
Harald Neuber: Sehen Sie, eben das meine ich mit dem notwendigen Blick hinter die Kulissen. Natürlich kann und sollte man als deutscher Journalist die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens beleuchten. Die Akzentuierung auf den Einbruch des Wachstums aber wirkt inmitten der Wirtschaftskrise der EU schon skurril. Dahinter steht meiner Meinung nach auch eine gezielte Beeinflussung der Berichterstattung durch Meinungsmacher. Ich gebe Ihnen dafür zwei Beispiele.
In Deutschland sind an der Gestaltung des Lateinamerika-Bildes maßgeblich die parteinahen Stiftungen beteiligt. Sie verfügen – anders als viele Medien – über enge Netzwerke in den Ländern des Südens. Dadurch können sie Experten für Interviews zur Verfügung stellen. Dabei gerät aber aus dem Blick, dass ein Vertreter etwa der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in der eigenen Analyse natürlich eine ganz spezifische, politisch geleitete Meinung vertritt. Besonders deutlich wurde das im Fall der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, die den Putsch im mittelamerikanischen Honduras 2009 gutgeheißen hat. Das Problem zumindest haben die deutschen Wähler inzwischen gelöst: Die liberale FDP ist von der politischen Bildfläche fast vollständig verschwunden.
Neben den Parteistiftungen gibt es in Deutschland eine Reihe von staatsfinanzierten Forschungseinrichtungen wie die Stiftung Wissenschaft und Politik oder das GIGA-Institut in Hamburg. Mitarbeiter dieser Institutionen stehen ganz oben auf den Interviewlisten hiesiger Medien. Sie alle werden aber teilweise oder vollständig von der Regierung bezahlt. Wie objektiv kann da die Analyse sein?
Frederico Füllgraf: Wie beurteilen Sie selbst die Regierung Rousseff und das PT-Programm im lateinamerikanischen Kontext?
Harald Neuber: Das gesellschaftliche Projekt der PT ist ein integraler Bestandteil der linken Reformbewegungen in Lateinamerika. Zugleich spielt Brasilien unter den BRICS-Staaten eine wichtige Rolle. Ich denke aber auch, dass die PT – wie die parteipolitische Linke weltweit – über das bürgerlich-parlamentarische System hinaus denken und handeln muss. Auch nach Gesprächen mit Kollegen in Brasilien sehe ich da Defizite unter Dilma Rousseff. Das ist ja sicher auch ein Grund, weshalb die Stichwahl in diesem Jahr so knapp ausfiel. 20 Prozent Wahlenthaltung und knapp sechs Prozent leere Stimmzettel – weist das nicht auf eine erhebliche Enttäuschung hin?
Frederico Füllgraf: Allerdings, mit rund 30 Millionen absenten Wählern war die Wahlenthaltung (20,1 Prozent) relativ hoch. Dazu kommen aber noch die entwerteten Stimmzettel, die 4,63 Prozent, also 5,2 Millionen Protestwähler zählten. Das sind aber nur zum Teil Reaktionen nicht nur gegen die Rousseff-Regierung, sondern auch gegen das absurde Parteien-Spektrum, das mittlerweile 26 Parteien umfasst. Hier mischte sich der Verdruss gegen Regierung und Parteien allgemein mit dem Protest gegen die Wahlpflicht, denn jede Enthaltung muss schriftlich begründet werden. Aber was soll man zum Beispiel im Vergleich zur Wahlenthaltung in Chile sagen? Die erreichte 2013 bei der Wiederwahl Michelle Bachelets 45 Prozent! Ich sehe dieses Verhalten als Ausdruck einer weltweit grassierenden Entpolitisierung der Menschen. Ein wachsendes Desinteresse an Politik allgemein greift um sich, weil die repräsentative, liberal-konservative westliche Demokratie unfähig ist für Innovation, vor allem beim Angebot von Partizipation.
Die Menschen haben das Gerede der "Profis" satt. Deshalb hat Rousseff jetzt die "Conselhos Populares Consultivos" (Gemeinderäte in beratender Funktion) als Komplementärinstanz zum Parlamentarismus ins Gespräch gebracht. Ihr Antrag zur gesetzlichen Anerkennung der Räte wurde in der ersten November-Woche bereits vom Abgeordnetenhaus in Brasilia mit der Begründung abgeschmettert, die Räte bedeuten eine – Zitat! – "Sowjetisierung" und steuern auf – Zitat! – "venezolanische Zustände" hin. Wirtschaftspolitisch blickt Brasilien wohl einer eher positiv zu beurteilenden nahen Zukunft entgegen, innenpolitisch steuert das Land jedoch auf eine Zerreißprobe der Demokratie entgegen. Die Konservativen wetzen ihre Messer, sie wetten auf Konfrontation.
Erzähle uns nun abschließend ein wenig über die Arbeit und Resonanz von amerika21 in Deutschland.
Harald Neuber: Das Lateinamerika-Nachrichtenportal amerika21 ist im Sommer 2007 entstanden und wird vom gemeinnützigen Verein Mondial21 e.V. getragen. Mit amerika21 haben wir ein Novum in der deutschsprachigen Presselandschaft geschaffen. Das Portal soll dazu beitragen, den kommunikativen Austausch zwischen globalem Süden und Norden zu erleichtern, indem es die Informationskluft zu überwinden versucht. Deshalb werden im Internet Informationen aus Lateinamerika auf Deutsch und in professioneller Aufbereitung zur Verfügung gestellt – offen zugänglich und kostenlos.
Amerika21 ist dabei zu einer professionellen Online-Redaktion herangewachsen, die täglich mehrere Stunden Arbeitszeit in Anspruch nimmt und quer durch alle politischen Lager wahrgenommen wird. Amerika21 hat sich auch als ein Referenzmedium in der deutschsprachigen Lateinamerikaberichterstattung etabliert. Dies ist das Ergebnis des derzeit ausschließlich ehrenamtlichen Engagements unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – sei es in der Redaktion, beim Recherchieren und Verfassen von Artikeln oder beim Übersetzen. Zunächst entstand amerika21 als Nachrichtenblog mit einigen Beiträgen pro Woche. Zu unserem vierten Geburtstag im Juli 2011 erscheinen zwischen drei und fünf Artikel täglich. Inzwischen greifen laut Piwik täglich über 1.800 Leserinnen und Leser auf die Seite zu und die Zahl steigt kontinuierlich.